Mittwoch, 28. Dezember 2016
Die Bonboniere
Leider ist diese Geschichte etwas traurig und sie hat auch kein Happy End. Sie zeigt eher, wie Menschen mit Menschen umgehen.

Also .....

Bei unserem Umzug fiel sie mir wieder in die Hände. Die Bonboniere. Wenige kennen heute noch dieses Wort. Es ist etwas in Vergessenheit geraten. Früher befand sich so ein Behältnis in nahezu jedem Haushalt. Besagte Bonboniere, von welcher hier die Rede sein soll, wurde Anfang der 50er Jahre aus Holz gedrechselt. Sie ist schlicht anzusehen und auch nicht besonders hübsch. Vermutlich wurde sie in einer Schreinerei im Wiehengebirge hergestellt. Aber sie hat eine besondere Geschichte ...
Diese Geschichte beginnt am Schillingsee. Meine Großeltern hatten dort eine kleine Landwirtschaft, nur wenige Meter vom Ufer dieses wunderschönen Sees entfernt. Ein kleiner Hof, mit Feld, ein paar Schweinen, Hühnern und Kaninchen. Nichts Besonderes. Für ihre vier Kinder, welche dort aufwuchsen, war es natürlich ein Paradies.
Dann kam der große vaterländische Krieg. Die russischen Armeen rollten über die Landschaft hinweg. Flucht, Elend, Not, Pogrome, Vertreibung ...
Ach so, ich vergaß: Der Schillingsee befindet sich mitten in Masuren. Das liegt bekanntlich in Ostpreußen.
Angesiedelt wurden dann etliche, die den Gräueln entkommen waren, in einen kleinen Ort im Wiehengebirge, namens Liekwegen. Tausende Kilometer von der Heimat entfernt. Ein kleines Straßendorf, mitten in einem ausgedehntem Waldgebiet gelegen. Einig Bauernfamilien und Hausbesitzer mussten auf ihren Höfen Wohnraum abtreten, damit die Flüchtlingsscharen eine Unterkunft bekamen. Häufig hausten dann sechsköpfige Familien, in zwei Zimmern zusammen gepfercht.
So viel zur Vorgeschichte, nun zum Ereignis: Wir schreiben das Jahr 1954. Es war Hochsommer und das alljährige Feuerwehrfest war in vollem Gange. Die Männer betranken sich kontinuierlich, die Frauen nahmen an einem dörflichen Wettbewerb teil. Es wurde mit Holztauben, welche anstelle des Schnabels einen spitzen Nagel hatten, auf eine Zielscheibe geworfen. So ähnlich, wie unsere heutigen Dartpfeile, nur hatten sie eben die Form einer Taube und waren selbst gemacht. Meine Mutter und meine Oma hatten sich durch die Vorentscheidungen in die Endkämpfe vorgearbeitet. Die Stimmung war hervorragend, denn es waren schöne Preise für die Sieger ausgelobt.
Der erste Preis war eine von Hand gefertigte Kommode. Das war natürlich ein großer Anreiz. Besonders für die Flüchtlinge, welche so gut wie nichts besaßen.
Welches der zweite Preis war, habe ich vergessen. Der dritte Preis war besagte Bonboniere, um die es hier geht.
Kurze Rede, kurzer Sinn: Meine Großmutter belegt den ersten Platz und meine Mutter den dritten.
Es kam zur Siegerehrung. Alles versammelte sich um die aufgebaute Bühne und harrte der Dinge, die da kommen. Großmutter stand stolz vor der schönen Kommode, Mutter hielt ihre Bonboniere in der Hand. Plötzlich ein Tumult. Seine königliche Hoheit, der Bürgermeister stand urplötzlich auf der Bühne. Wutentbrannt schrie er: „Das kommt überhaupt nicht in Frage, dass dieses dreckige, her gelaufene Flüchtlingspack uns auch noch den schönen ersten Preis klaut.“ Er entriss meiner Mutter die Bonboniere und drückte sie meiner Großmutter in die Hand. „Das ist mehr, als ihr verdient und jetzt verschwindet hier.“ Das Volk jubelte seinem couragiertem Oberhaupt zu. Was folgte, war ein Spießrutenlaufen durch die Menge und verlassen der Festwiese. Obwohl ich noch recht klein war erinnere ich mich noch genau an die betrübte Stimmung auf dem Heimweg.
So erhielt die Zweitplatzierte die Kommode und die Holzbonboniere wanderte in unseren Familienbesitz. ....
Irgendwie, auch noch mehr als 50 Jahre später, ein kleines Lehrstück, wie heutzutage mit Flüchtlingen und Migranten umgegangen wird und wie sie in diesem schönen Land angesehen sind. Menschen 2. Wahl ....
... Noch ein Wort zu meinem Großvater, der bis heute Vorbildfunktion für mich ausübt.
Allen Vertriebenen, welche Grundbesitz durch den Krieg in Ostpreußen verloren hatten, standen Ausgleichzahlungen zu, damit sie hier wieder auf die Beine kommen. Viele nutzten das schamlos aus. Die Älteren erinnern sich vielleicht noch an die Gerstenmeyer-Affäre. Unser ehemaliger Bundestagspräsident hatte da besonders kräftig hin gelangt.
Meine Großvater weigerte sich bis zum Lebensende nur noch einen einzigen Pfennig von diesem Staat anzunehmen. Darin war er sich mit meiner Großmutter einig. Sie lebten von einer bescheidenen Rente, die sie sich noch erwirtschaftet hatten und von dem, was sie selber anbauten. Bis an ihr Lebensende ...

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